Antworte ich auf die Frage was ich beruflich mache mit “Yoga” schauen mich die meisten erstmal mit großen Augen an, gefolgt von der Frage: “Davon kannst du leben?” Tatsächlich kann ich davon ziemlich gut leben. Um genau zu sein braucht man zum Leben eigentlich nicht viel mehr. “Dann bist du ja bestimmt ganz schön beweglich”, ist dann oft die nächste Anmerkung. Rein oberflächlich betrachtet kann man das jedenfalls bejahen. Möchte ich den Stein ins Rollen bringen oder zumindest die ein oder andere Welle im Geiste meines Gegenübers zum schlagen bringen antworte ich auf solche Fragen mit: “Yoga macht nicht nur physisch sondern vor allem geistig flexibel.”
Im Yoga geht es also nicht nur um den Körper, sondern auch um den Geist. Genauer ausgedrückt, um die Verbindung zwischen dieser beiden und aller anderen Bestandteile des Seins. Recht schnell wird deutlich, ob ich dieses Gespräch mit meinem Gegenüber weiterführe oder lieber gleich das Thema wechsel. Bei dem Wort “Geist” überkommt es nämlich immer noch viele mit Zweifeln, Angst, wenn nicht sogar Panik getarnt in Sakarsmus, der mich in den Augen meines Gesprächspartners von der Turnlehrerin zur Esoteriktante degradiert (Lektion 1 für jeden Yogalehrer: NICHTS persönlich nehmen ;-)).
Für alle, die an der tieferen Philosophie der Yogapraxis interessiert sind, habe ich versucht im folgenden Artikel meine wichtigsten Grundpfeiler des Yoga in Kurzform zusammenzufassen.
# Freude
Viele der Menschen, die in meinen Unterricht kommen, teilen eine ähnliche Vorgeschichte: Sie fühlen sich gestresst vom Job, unausgeglichen im Alltag, sie leiden unter Rückenschmerzen und Schulterverspannungen oder haben beim letzten Mal Schuhezubinden festgestellt, dass sie ihre Füße nicht mehr erreichen können. Leiden ist für viele also der erste Schritt auf dem Weg des Yoga. Schon fragwürdig wenn man bedenkt, dass es in der Yogaphilosophie eigentlich um den Dauerzustand der Freude geht.
Die Definition von Freude ist durchaus subjektiv und der Ausdruck von Freude kann von Person zu Person variieren. Jedoch wusste bereits Buddha, dass materieller Wohlstand nicht der Schlüssel zum Glück ist und selbst Notorious B.I.G. lehrte uns: “Mo Money, Mo Problems”. Materieller Besitz, zwischenmenschliche Beziehungen, körperliche Schönheit oder Gesundheit werden oft als Grundvoraussetzung für das Gefühl von Freude gesehen.
Doch auch derjenige, der all diese Bedürfnisse gestillt hat, wird feststellen, dass nach einiger Zeit die Freude daran vergeht. Es liegt in der Natur des Menschen nach Veränderung und Fortschritt zu streben. Selbst wenn wir also das halbe Leben auf ein Ziel hinarbeiten von dem wir uns dauerhaftes Glück versprechen, werden wir ernüchternd feststellen, dass der erreichte Zustand uns nicht zufrieden stellen wird.
Freude ist kein Ziel, denn Freude ist omnipräsent für denjenigen, der sie zulässt. Der Yogi geht davon aus, dass alles, was wir brauchen, um glücklich sein zu können, bereits vorhanden ist. Jenseits von äußeren Bedürfnissen hilft uns Yoga die Verbindung zu diesem Gefühl von inneren Frieden und Zufriedenheit – unabhängig von allen Einflüssen der äußeren Welt – wiederherzustellen. Durch Asanas und Meditation öffnen wir sowohl Herz als auch Verstand, um empfänglich für den tief in uns verankerten Kern von Freude und Glück zu werden.
# Leichtigkeit
Spätestens wenn die Schmerzen im unteren Rücken nachgelassen haben und ich die Teilnehmer am Ende der Stunde entspannt in ihren Feierabend entlassen darf, macht sich bemerkbar, dass Yoga eine tiefgreifendere und vor allem nachhaltige Wirkung hat. Auf Anhieb deuten können dieses Gefühl die wenigsten. “Es fühlt sich gut an”, sagen die meisten, es lässt eine Art von Leichtigkeit erfahren, die leider meist schon beim Verlassen des Yogastudios wieder verfliegt.
Wenn wir uns zurück in die Welt der Materie begeben und der Verstand dazu aufgefordert wird zwischen all den Einflüssen der Außenwelt zu selektieren bleibt oftmals weder Zeit noch Raum für inneren Frieden. Bei dem Überangebot von Sinneseindrücken, die durch Medien, Werbung und Kommunikation, auf uns einpreschen, sind wir förmlich dazu gezwungen uns auf die Äußerlichkeiten zu beziehen anstatt uns mit uns selbst zu beschäftigen.
Wir fühlen uns unter Druck gesetzt von den Entscheidungen, die getroffen, und den Aufgaben, die erledigt werden müssen, und verlernen die Fähigkeit uns zu entspannen und das Leben so zu nehmen wie es ist. Kontrollmechanismen beherrschen unser Handeln aus Angst zu Versagen oder eine Fehlentscheidung zu treffen. Die Leichtigkeit des Lebens, die wir manchmal erfahren wenn wir nach drei Tagen Strandurlaub endlich zur Ruhe kommen, weicht einem Dauerzustand von Angespanntheit.
Die Yogapraxis kann uns dieses Gefühl von kindlicher Leichtigkeit wiedergeben indem wir lernen Kontrollmechanismen loszulassen und uns mit unserer Intuition zu verbinden, die so oft viel besser als der Verstand weiß was uns gut tut.
# Energie
Stress und Angespanntheit sind Dauerzustand unserer Gesellschaft geworden und bewegen immer mehr Menschen dazu auf alte Lebenskonzepte wie Yoga zurückzugreifen. Bei all den Anforderungen und Erwartungshaltungen, die das gesellschaftliche Leben an uns stellt, sucht der Mensch die Gelegenheit Kraftreserven wieder aufzufüllen und sich zur Abwechslung mal nicht ausgelaugt und erschöpft sondern endlich wieder lebendig zu fühlen!
Das Gefühl von Lebendigkeit wird vor allem über die physische Yogapraxis erreicht. Die Asanas, die auf der Matte geübt werden, dienen also weniger dazu dem eigenen Ego zu schmeicheln (Drop the Ego, baby!) vielmehr aber den Energiefluss des Körpers wieder in Schwung zu bringen. Bewegung im Einklang mit dem Atem löst energetische Blockaden und lässt Prana (Lebensenergie) frei fließen. Dieses Gefühl von Verbundenheit zum eigenen Körper ist wohl Grund dafür, dass die meisten meiner Teilnehmer die Yogastunde (hoffentlich) beflügelt verlassen.
Yoga sollte trotz seiner energetisierenden Wirkung nicht als Sportersatz, sondern viel mehr als Ausgleich zu anderen Aktivitäten gesehen werden. Anders als beim Sporttreiben geht es nicht darum sich auszupowern. Die Asanapraxis (aka Mattenturnen ;-)) soll dazu beitragen den eigenen Körper besser kennen zu lernen und ein Gespür dafür zu entwickeln wo die eigenen physischen Grenzen liegen. Um sich selbst mit Respekt und dem Körper mit Dankbarkeit zu begegnen gilt es die eigenen Limitationen zu akzeptieren ohne sich mental von Ehrgeiz oder Stolz übertrumpfen zu lassen.
Bei kontinuierlicher Übung wirst du schnell feststellen wie dein Körper funktioniert und wie du ihn am besten einsetzen kannst, um dich frei und unbeschwert auf und außerhalb der Matte zu bewegen. Sobald du die Funktion deiner Muskulatur und Gelenke optimiert hast lernst du recht schnell deine Energie auf ausgeglichene und sinnvolle Weise einzusetzen. Insgesamt sensibilisierst du dein körperliches und geistiges Befinden und kannst dadurch viel besser einschätzen wie du dich fühlst, warum du dich so fühlst und vor allem wie du dich besser fühlst!
# Einheit
Das universelle Gesetz besagt, dass alles auf dieser Welt aus zwei Gegensätzen besteht. Ohne Trauer, keine Freude, ohne Leben kein Tod. Dieses Prinzip der Polaritäten mag für den ein oder anderen den Eindruck hinterlassen, sich für eine der zwei Seiten entscheiden und Gegebenheiten anhand dessen bewerten zu müssen. Es scheint bequemer zu sein Partei zu ergreifen, sich innerhalb der eigenen Komfortzone zu bewegen. Wenn wir uns allerdings vor jeglichem Perspektivwechsel verschließen setzt ein Gefühl von Getrenntsein ein. Wir identifizieren uns mit Gewohnheits- und Denkmustern und entfernen uns immer mehr von dem inneren Kern. Ein friedvolles Zusammenleben in Verbundenheit mit uns selbst und anderen setzt voraus, dass wir uns an beiden Seiten bedienen müssen, um ein Gefühl von Einheit zu schaffen. In der Psychologie wird dafür auch gern das Wort Empathie genutzt. Yoga hilft uns dabei das Gleichgewicht zwischen den Polaritäten zu finden und sowohl uns selbst als auch anderen verständnis- und respektvoll zu begegnen.
# Meditation
Als Yogi kommst du am täglichen Meditieren nicht vorbei, so ist Meditation essentielles Werkzeug, um sich mit den tieferen Schichten des Seins zu verbinden und die Connection zu anderen Ebenen des Bewusstseins zu erreichen. Auch wenn du es vor lauter Alltagsverpflichtungen des Öfteren vergisst: Du bist viel mehr als dein Job, viel mehr als dein Körper, viel mehr als das, was die äußere Welt und die Gesellschaft von dir erwarten oder die Rolle, die dir aufgrund dessen zugeschrieben wird. Wer sich diese Tatsache nicht ständig zurück in das Bewusstsein ruft bleibt verhaftet in den Oberflächlichkeiten der materiellen Welt mit all ihren gesellschaftlichen Zwängen und verpasst die Essenz des Lebens.
Wenn du jetzt immer noch nicht so richtig verstanden hast was Yoga bedeutet, probierst du das Ganze am besten einfach mal an dir selbst und im Rahmen einer Yogastunde aus. Mich hat Yoga vor allem gelernt den Kopf mal auszumachen und das innere Gefühl sprechen zu lassen. Das wohl wichtigste Prinzip in der altindischen Lehre ist nämlich: Wahres Wissen kommt mit der Erfahrung! Theoretisches Wissen ist nichts wert, wenn du nicht bereit dazu bist es in die Tat umzusetzen.
Fotos aus:
Mittag, Martina (2018): Hatha Yoga – Das komplette Buch.
Aachen: Meyer & Meyer.
Ab Mai 2018 im Handel erhältlich.